Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum

Zum, wenn die Corona-Pandemie nicht gewesen wäre, beinahe 25. Mal fand am Sonntag, den 14. Januar 2024 die Bildungsveranstaltung des Bildungswerkes für Kommunalpolitik in Hessen statt.
Der Verein der Freien Wählergemeinschaft Biebertal hatte dazu in das Bürgerhaus Rodheim geladen.

Frau Mohr konnte zahlreiche Gäste und den Referenten Peter Franz, niedergelassener Allgemeinmediziner aus Ehringshausen-Katzenfurt, Abgeordneter in der Vertreterversammlung der Kassenärtzlichen Vereinigung und u.a. Vorsitzender des Ärztenetzes für die Region Lahn-Dill, begrüßen.

Die Situation
Wir haben in Deutschland und auch in Biebertal eine gute gesundheitliche Versorgung, bei der alle Menschen – was nicht überall auf der Welt der Fall ist – Zugang zu ärztlicher Versorgung.
Im Bild unten sieht man die Ärzteverteilung rund um Gießen. Erreichbar sein sollte ein Hausarzt in 20 Min., Kinderärzte in 30 Min., Augen- und Frauenärzte in 40 Min. und andere Fachärzte in 60 Min. sein.
Das aber ist, insbesondere für ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger, zum Teil aus eignen wie äußeren Mobilitätsgründen problematisch.
Dennoch profitieren wir in Biebertal von der Uni in Gießen und den dort ausgebildeten Medizinern, da etliche Studierende mit ihren Familien nahe ihrem Studienort verbleiben. Weiter ab gelegen im ländlichen Raum wird die ärztliche Versorgung nur schwerer aufrecht zu erhalten sein.

Gründe
Es braucht mindestens 11 Jahre – Studium (6 J.) und Facharztausbildung (5 J.) – bis sich jemand niederlassen kann.
Dabei sind derzeit 70 % der Medizinstudierenden Frauen, die oft wegen der Familienplanung noch längere Zeit benötigen, um ihre Weiterbildung zum Facharzt abzuschließen.
Wer also heute sein Studium der Medizin aufnimmt, steht frühestens 2035 für eine Praxisnachfolge zur Verfügung.
Für den zukünftigen Bedarf werden aktuell zu wenig Studenten ausgebildet, bedenkt man, dass 2030 bereits über 50 % der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte 65 Jahre und älter alt sein werden.
Die niedrigen Ausbildungszahlen liegen an den aus den 1990er Jahren stammenden Berechnungsgrundlagen, die nach der Wiedervereinigung Deutschlands von einer „Ärzteschwemme“ ausging. Bislang wurden diese Zahlen ebenso wenig aktualisiert, wie die Gebührenordnung der Ärzte (zuletzt 1996, Tierärzte 2022).
Vor Niederlassungen schrecken Mediziner derweil auch zurück, da die Praxiskosten mit Inflation, Energiekosten, Mieten und Tariflöhne der Angestellten beständig steigen und jetzt schon manche Praxen in ihrer Existenz bedrohen. Denn die Zuweisungen der Krankenkassen werden, unabhängig vom Fallaufkommen an Erkrankungen, einmal pro Jahr mit der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) verhandelt. Die KV muss dann das gedeckelte Budget auf alle Ärzte verteilen.
In der Praxis bedeutet das, dass Ärzte in jedem Jahr zu einem Teil ihre Arbeitszeit ohne Bezahlung erbringen.
(Derzeit sind nur 1-2 Patientenkontakte im Quartal kostenmäßig gedeckt- wegen dieser morbiditäts(=krankheits)-orientierten Gesamtvergütungsregelung)
Zudem liegen, neben der vielen Bürokratie (geschätzt mittlerweile auf 50 % der Arbeitsarbeitszeit – die für die Patient/innen fehlt!), viele eigentlich praxisfremde Arbeiten an, die für die Krankenkassen erbracht werden müssen. Aber auch Nachwuchssorgen beim Personal und Vorgaben zur Digitalisierung, zur IT-Sicherheit, zum Datenschutz usw. drücken auf den Niederlassungswillen junger Kolleg/innen. Das ist also einiges im Argen, berichtete der Referent. Hinzu kommt dann noch, dass die Bevölkerung derzeit zunehmend älter wird: d.h. höherer Versorgungsaufwand, größerer Zeitbedarf pro Patient und mehr Unterstützungsbedarf. Aktuell aber ist es so, dass „wer viel leistet oder viele ältere und schwer kranke Menschen betreut, viel von seiner Vergütung abgezogen bekommt!“

Zukunft
„Wer also will und kann diese vermehrte Belastung – zumindest unter den aktuellen Bedingungen – auf sich nehmen?“
In der Wirkung bedeutet dieses von den Krankenkassen etablierte System, dass die älteren Kollegen früher aus dem Beruf getrieben werden und die jüngeren Angst haben – und insbesondere auf dem Lande Angst haben, allein da zu stehen. Die junge Generation sucht die Arbeit im Team, die Verteilung der Lasten auf mehrere Schultern.
Zudem leisten wir uns in Deutschland noch 96 Krankenkassen, deren Vorsitzende oft deutlich besser bezahlt werden, als er als Hausarzt solche Zahlen nicht einmal mit seinem Gesamtjahresumsatz erzielen könnte.

War es früher so, dass die Kollegen mit ihrer Praxis „verheiratet“ waren und gefühlt „24/7/365“, rund um die Uhr, für ihre Patienten ansprechbar waren, so haben sich die Erwartungen der jüngeren Kolleginnen und Kollegen gewandelt:
„Wer heute seine Facharztausbildung abschließt, möchte bevorzugt in Teilzeit arbeiten, achtet auch seine Work-Life-Balance und will weniger Verantwortung tragen, als das früher der Fall war.“ Auch das reduziert, selbst bei mehr arbeitenden Köpfen, die verfügbare Arztarbeitszeit.
Neben der Präsens in der Praxis von 7 bis 19 Uhr (Mi und Fr bis 14 Uhr) sind auch Nacht-, Wochenend- und Feiertagsdienste abzudecken. Das macht heutzutage der ärztliche Bereitschaftsdienst (ÄBD). Den aber stellen letztlich auch die Niedergelassene und Klinikärzte. Für eine gute Versorgung der Patienten, sollten diese für die vielfältigen Probleme der Patienten auch ausgeschlafen sein. Im Alltag aber werden sie oft von „Kunden“ belastet, deren Gründe, den Notdienst aufzusuchen, keine echten Notfälle darstellen.

Hilfe und „Lösungsansätze“
Auch der Job des medizinischen Fachpersonals ist extrem stressig, verantwortungsvoll und zum Teil in der Pflege auch körperlich herausfordernd und belastend. „Wo finden wir Menschen, die diese Arbeit machen wollen?“

Lösungsansätze, die von der Politik vorangetrieben werden, setzen auf Digitalisierung.
Videosprechstunden aber ersparen dem Arzt / der Ärztin zwar einerseits Wege, bedeuten aber bei vielen Kranken, dass zumindest eine Sprechstundenhilfe beim Aufbau der Videoverbindung helfen muss. Letztlich ist der Zeitaufwand für den Arzt der gleiche, nur dass wichtige Daten aus Eindrücken und persönlichen Untersuchungen fehlen.
Auch die digitalen Apps mit Gesundheitsangeboten für Patienten DiGA, die Herr Spahn eingeführt hatte, kosten zum Teil mehr als 10 Quartale ärztlicher Behandlung und fehlen letztlich im realen Kontakt mit Patient/innen.
Das wiederum, so stelle ich es in meiner psychotherapeutischen Praxis fest, führt zu Mehrkosten, die bei hinreichend bezahlter Zeit für Gespräche mit Betroffenen in der Hausarztpraxis gar nicht erst zu echten psychischen Erkrankungen werden würden.
Auch die Idee, ärztliche Leistungen zum Teil von anderen Professionen *) erbringen zu lassen, die keine so intensive Ausbildung absolvieren müssten, kann sich der Referent gut vorstellen; allerdings sieht er kaum jemanden, der die Verantwortung übernehmen will.
*) z.B. PA´s (Physician Assistant) oder HCN (health community nurse), also Gemeindeschwester im Gesundheitskiosk

In geringem Maße wird inzwischen auch ein explizites Landarztstudium angeboten, bei dem nicht mehr die 1,1 im Abiturzeugnis verlangt wird, sondern andere Qualifikationen mit in die Studienzulassung einfließen; doch auch hier liegen die Zahlen derzeit bei 35 Studenten, während bald weit über 1.000 Arztstellen in der Primärversorgung zu besetzen sein werden.

Wir werden in Zukunft also nicht um ein höheres Maß an Selbstversorgung herumkommen.
Gesundheitskompetenz muss aufgebaut werden. Es muss genauer geschaut werden, wer braucht wann welche Hilfe. Es braucht dringend kommunale Transportkonzepte und verbesserten ÖPNV.
Und es bedarf einer besseren Vernetzung von Leitstellen, Praxen vor Ort, ärztlichem Bereitschaftsdienst und Rettungsdienst, sowie einer qualifizierten Beratung von Patienten über 116117 und Video-Telefonie.
Ebenso sind Praxisverbünde wie Häppi mit multiprofessionellen Team sinnvoll.

Zum Schluss wurden noch einige Publikumsfragen beantwortet.

Dann dankte Ingo Mohr dem Referenten und
lud zu weiteren Gesprächen ins Forye des Bürgerhauses zum Neujahrsempfang der Freien Wähler ein. Dort wurden die Gäste und Diskutanten mit Sekt und Häppchen empfangen.

Fotos: Lindemann

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