Beitrag zu der Kick-off-Veranstaltung zu GEMEINSAM in Biebertal – Bürgerhilfe Biebertal

17.30 bis 19.00 Uhr

Als Initiator dieses Projektes geht es mir um den
Aufbau von Angeboten zur Unterstützung im Alltag, die allen Biebertalern zugutekommt.

Dazu möchte ich zunächst allen Beteiligten danken, die uns bis hierhin gebracht haben,
ebenso wie denen, die diese Idee in Zukunft mit Leben füllen.
Dem Projekt wünsche ich, dass es gut ins Laufen kommt und langfristig wirkt.


Im Folgenden möchte ich Ihnen einige allgemeinere Überlegungen zum Thema ausbreiten:

Manchmal entwickelt sich Unterstützungsbedarf schleichend, z.B. im Zuge des Älterwerdens, manchmal plötzlich, z.B. durch Schlaganfall oder Unfall.
                           Dann stehen Menschen vor der Frage: „was nun?“

Vielfältig geschieht Familien- und Nachbarschaftshilfe heute bereits auf privater Basis.
Tatsächlich sind es schon jetzt meist Angehörige, die Einspringen und Versorgen; aber
auch sie kommen mit ihrem sonstigen Alltag schnell an eigene Belastungsgrenzen … brauchen Unterstützung – auch wenn sie sich das häufig selbst schlecht eingestehen können.

Was aber ist mit den Menschen, Jung wie Alt, die sozial nicht so gut eingebunden sind
oder in ihrer Mobilität eingeschränkt sind?

An wen soll man sich wenden, wenn keine Oma, kein Opa, kein Onkel, keine Tante, kein Kind und kein Enkel im Ort oder in der Nähe wohnt?
Schon jetzt leben 20 % der Menschen in Deutschland allein; in der Gruppe der über 65jährigen sind es gar 35 %! Und die meisten Älteren leben im ländlichen Raum.

Zwar gibt es, bei genauerer Recherche, in und um Gießen vielfältige Angebote. Die aber sind in der Not erst einmal kaum bekannt, für manche zu teuer oder nicht gut erreichbar.

Zudem stoßen wir bei der professionellen Versorgung längst an personelle Grenzen.

Die demographische Entwicklung lässt eine Verschärfung des Versorgungs- und Finanzierungsproblems in den kommenden Jahrzehnten erwarten.
Dies zumal „Vater Staat“ nicht mehr die Mittel hat, Vollversorgung zu gewährleisten.

Doch 79 % der Befragten einer Umfrage unter der Babyboomer-Generation (1955-1970 geboren), sieht den Staat in der Verantwortung, die Pflege zu organisieren, obwohl längst klar ist, dass staatliche Versorgung solche „elterliche Versorgungsaufgaben“ nicht leisten oder gar organisieren kann.

Wer sich jung und fit fühlt, verdrängt gern die Folgen von Altern und Krankheit. So wurde das Thema „Altern“ und Wandel – sowohl in der Politik, als auch im Privaten – verdrängt.  
Die wenigsten haben sich schon einmal mit den Themen Pflegebedürftigkeit und Risikovorsorge oder Erbfolge auseinandergesetzt.
Aktuell jedoch werden die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte an vielerlei Stellen offenkundig.

Aufgeschoben erwirkt eben kein Aufgehoben;
und fehlende Pflege der Infrastruktur – im Körper wie in der Gesellschaft – schafft Probleme und Handlungszwänge, statt Gestaltungsmöglichkeiten und Wohlbefinden.

Dennoch muss an alle hilfebedürftigen Menschen in Biebertal gedacht werden;
die oft in Häusern leben, in denen Wohnungen leer stehen, während zugleich Wohnraum fehlt. Auch hier, wie grundsätzlich, könnte ein Zusammenkommen, ein sich kennenlernen und gegenseitige Unterstützung für alle Beteiligten ein Gewinn sein.

Aus meiner Sicht kommen wir schon jetzt – und mehr noch in absehbarer Zukunft –
nicht um mehr Eigeninitiative und kooperative Zusammenarbeit aus.

Daher die Idee, für mehr Miteinander und neue Formen der Nachbarschaftshilfe zu sorgen.  
            
Ich bin überzeugt, dass wir uns für die Zukunft neu ausrichten müssen.

Schon heute erleben wir, dass es in Biebertal nicht nur an Kita-Plätzen fehlt,
dass die Situation in Schulen als desolat und überlastet berichtet wird,
dass viele Berufstätige durch Arbeitsverdichtung gestresst und demotiviert sind,
dass die Zahl der älteren Menschen steigt und deutlich weniger junge Menschen nachfolgen.

Als Mediziner weiß ich, dass sich das Krankheitsrisiko überall da erhöht,
wo sich die Qualität und Quantität zwischenmenschlicher Beziehungen vermindert.

Gute mitmenschliche Beziehungen müssen sich im direkten Kontakt abspielen.
Denn für unser Erleben und Lernen braucht unser Gehirn persönliche Beziehungen und Eindrücke im dreidimensionalen Raum.
Unsere Beziehungserfahrungen wirken strukturbildend im Nervensystem; wirken bis in die Genaktivität der Zellen hinein, die Reaktionsweisen und Stoffwechselprozesse steuern.

Umgekehrt gilt daher auch, dass Vernachlässigung, ebenso wie Traumatisierungen durch Katastrophen, Misshandlungen oder Missbrauch fatale Folgen für die Gesundheit, das seelische Gleichgewicht sowie die Beziehungsgestaltungen im späteren Leben haben.

Oft werden früh erlebte Schmerzen erst viel später in körperlichen, psychischen, Beziehungs- oder Verhaltensauffälligkeiten sichtbar, so dass die Erinnerung an die Ursachen schwer herzustellen ist. Klar ist jedoch, dass psychisches Leid, z.B. Einsamkeit, im Körper als Schmerz verarbeitet wird. Das sollten wir niemandem zumuten.

Durch eine engere und koordinierte Vernetzung von Jüngeren, jüngeren Alten und Älterenkönnen mit freiwillig sich ehrenamtlich engagierenden Bürgerinnen und Bürgern Synergieeffekte geschaffen werden, die für alle eine bereichernde Erfahrung werden.

Neben der praktischen, wie gefühlten, Teilhabe an sozialen Kontakten, in Gesprächen oder im Praktizieren gemeinsamer Hobbies usw. lässt sich sicherlich spannendes aus sowohl kurzen wie langen Lebenserfahrungen entdecken, das ausgetauscht und entwickelt werden kann. Zudem ist es für alle Beteiligten gesünder.
Denn, wie alte Menschheitserfahrungen besagen und moderne Forschungen bestätigen:
            Geben ist Seeliger, denn Nehmen.

Dabei entsteht zeitweilige Entlastung für ältere, mobil eingeschränkte oder einsame Menschen, für solche mit Handicap oder gesundheitlicher Einschränkung, für pflegende Angehörige, wie für junge Familien oder bei der Integration von Mitbürger/innen aus anderen Ländern und Vorstellungswelten.

Wichtig ist hier aber auch die Möglichkeit einer sinnstiftenden Tätigkeit;
z.B. für die Kohorte der Babyboomer, die in Deutschlands Bevölkerung in den kommenden Jahren ca. 30 % ausmacht. Sie scheiden in den kommenden Jahren zunehmend aus dem Erwerbsleben aus und treten in einen neuen, höchstwahrscheinlich langen und aktiven Lebensabschnitt ein.
Für sie dürfte es in dieser Zeit wichtig sein, gebraucht zu werden, dazuzugehören und einen sinnvollen Lebensinhalt zu haben und zugleich für die eigene Zukunft im Alter vorzubauen.

Die Lebenserwartung stieg in Deutschland in den letzten Jahren kontinuierlich an.
Das durchschnittliche Rentenalter liegt derzeit bei 64 Jahren;
d.h. Frauen haben dann statistisch gesehen noch über 21 und Männer 18 Jahre vor sich.
        Davon dürften viele die Hälfte dieser Zeit leidlich beschwerdefrei leben.

Erst in höherem Alter sind Menschen auf intensivere Pflege und Unterstützung angewiesen.
Sie können damit länger in ihrer bisherigen Wohnung bleiben, könnten für sich und andere da sein und zugleich ein Netz an eigener Unterstützung aufbauen, wenn sie später selbst auf Unterstützung angewiesen sind.

Zwar ist die ältere Generation in ihrer Lebenskonzeption derzeit zumeist auf individuelle Bedürfnisse ausgerichtet; ihr sozioökonomischer Status in Bezug auf Altersvorsorge und Wohlstand ist derzeit noch eher gut.
So werden Wohnung oder Haus erst in ein Heim verlassen, wenn die ambulante Pflege zuhause nicht mehr zu bewältigen ist. Zurzeit zählt gut die Hälfte der Pflegebedürftigen 80 Jahre und mehr. Davon werden aktuell ¾ zuhause – überwiegend von Angehörigen – versorgt.

Schon weil die jüngeren Jahrgänge schwächer besetzt sind, werden die Möglichkeiten, sich zuhause versorgen und pflegen zu lassen, künftig noch mehr eingeschränkt sein, als dies heute schon der Fall ist.

Umso wichtiger werden Nachbarschaftshilfen und ehrenamtliche Unterstützungssysteme, die die professionellen Dienste ergänzen – mit Hausbesuchen und organisierenden Koordinationsstellen – auch um der immer mehr grassierende, oft gar tödlich endenden, Einsamkeit entgegenzuwirken.

Ein wichtiger Nebeneffektin diesem Projekt nicht explizit intendiert aber wichtig – dürfte das gegenseitige Kennenlernen von jüngeren und älteren Menschen sein, so dass sich Vertrauensverhältnisse entwickeln, Vorurteile wie Ängste abgebaut werden und Wissen nicht verloren geht.
Junge Wohnungssuchende könnten dann z.B. als Mieter in Häuser mit leerstehenden Wohnungen ziehen, die bislang ungenutzt blieben; z.B. im Tausch gegen einfache Hausdienste wie Rasenmähen, Einkaufen, Unterstützung bei Arztbesuchen, Tierpflege, Unternehmungen, als Schachpartner, etc..
Ähnliche Synergieeffekte könnten sich bei Hausaufgabenhilfe, gemeinsamem Spielen, Musizieren, Sprachen lernen mit Ersatz-Großeltern entwickeln und im Umgang mit Kindern und Jugendlichen zu mehr Bewegung von Jung und Alt führen. Wie Experimente zeigten erhöht sich zugleich die körperliche Fitness älterer und emotionale Bezugnahme aller.

Es braucht in naher Zukunft neue Wohnformen, neue Informations- und Kommunikations-wege, Netzwerke, Anlaufstellen in allen Ortsteilen der Gemeinde, damit die mobilen und auch die weniger mobilen Älteren am gesellschaftlichen Leben teilhaben können und dem Wunsch nach sozialen Kontakten, Selbständigkeit und Sicherheit entsprochen werden kann. Es braucht Begegnungsstätten, Gesprächskreise, Selbsthilfegruppen, Kulturangebote, Zugang zu Informationen, Hilfe beim Umgang mit Medien wie beim Erhalt der Selbständigkeit und gegen Vereinsamung und Verelendung.
Das sind weitere Zukunftprojekte.

Langfristiges Ziel muss es sein, eine tragende Infrastruktur zu schaffen, einen Rahmen, ein Angebot, das es ermöglicht die Beziehungen zwischen den Generationen zu fördern und eine „sorgende Gemeinschaft“ zu entwickeln.
Dazu müssen in Zukunft Hilfestrukturen jenseits der Familie existieren, denn a) leben die Menschen länger, haben aber b) weniger Nachkommen und c) leben diese oft so entfernt, dass sie weder akut noch andauernd für regelmäßige Unterstützung verfügbar sind.
Zugleich gibt es über noch viele Jahre reichlich „junge Ältere“, die sinnhaft Teil des gesellschaftlichen Lebens sein wollen; die auch ohne im Arbeitsleben zu stehen einer Identität und Aufgabe bedürfen.

Es braucht Kümmerer/innen und Unterstützungsnetze vor Ort.

Bürgerschaftliche Selbsthilfeorganisation auf freiwilliger Basis erfordern eine hohe Motivation der Mitwirkenden, einen Raum, an dem sich etwas kristallisieren kann, an dem organisiert und koordiniert werden kann, eine Person oder Gruppe, die sich verantwortlich fühlt und voran geht.

Das soll hier beginnen. Großen Dank an alle Beteiligten!

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Dr. Alfons Lindemann

Bildmaterial: Freiwilligenzentrum Gießen

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